Stimmt die Chemie bei der Chemikalienstrategie?
Die Chemikalienstrategie verfolgt einen Regulierungsansatz, der sehr stark auf den gefährlichen Eigenschaften von Chemikalien basiert und die Bedingungen einer sicheren Verwendung außer Acht lässt:
Die EU-Kommission plant neue Datenanforderungen, Verwendungsbeschränkungen und eine umfassende Regulierung von Stoffgruppen mit bestimmten Eigenschaften (etwa Persistenz, Mobilität oder endokrine Disruptoren). Beschränkungen von Chemikalien in Verbraucherprodukten oder auch in professionellen Verwendungen sollen künftig ohne vorherige Risikobewertung und Konsultation der Hersteller im Schnellverfahren erfolgen können. Bestimmte Polymere sollen registrierungspflichtig werden. Geprüft wird auch die Einführung eines Bewertungsfaktors für mögliche Kombinationseffekte von Stoffen.
In der CLP-Verordnung sollen neue Gefahrenklassen eingeführt werden, teils unabhängig davon, ob es sich dabei um echte Gefahrenmerkmale handelt. Die Chemikalienstrategie führt auch neue Begriffe wie „sichere und nachhaltige Chemikalien“, „bedenkliche Stoffe“ oder „essenzielle Verwendungen“ ein. Hier sind klare Definitionen nötig, bei deren Erstellung die praktischen Auswirkungen berücksichtigt werden.
Wird die Chemikalienstrategie jedoch nicht maßvoll umgesetzt, verringert sich die Zahl verfügbarer Chemikalien und ihrer Anwendungen in Europa drastisch. Das würde beträchtliche negative Effekte auf die chemische Industrie als Hersteller unterschiedlichster Chemikalien, aber auch auf ihre Kundenbranchen nicht nur in Rheinland-Pfalz nach sich ziehen.
Impact Analyse der ökonomischen Auswirkungen durch CEFIC
Der europäischen Chemieverband CEFIC hat eine Analyse der konkreten ökonomischen Folgen der ersten beiden geplanten regulatorischen Änderungen, der CLP-Verordnung und des Allgemeinen Risikoansatzes (GRA), durchgeführt.
Daran beteiligten sich auch Chemieunternehmen unterschiedlicher Größe und Geschäftsfelder aus Rheinland-Pfalz. Zusammen stehen sie für mehr als 80% des hiesigen Branchenumsatzes. Demnach würden in der EU rund 12.000 Chemikalien mit 28% bis zu 43% des Gesamtumsatzes betroffen sein. Darunter fallen z.B. Batterie- und Elektronikchemikalien, Baumaterialien, Lacke, Additive, Hochleistungskunststoffe,Materialien für Windenergieanlagen und Pharmazeutika. Alles Materialien, die für die Umsetzung des Green Deals notwendig sind.
Da die Substitutionsmöglichkeiten und die Reformulierungsoptionen begrenzt sind, hätte dies spürbare Folgen: Produkte verschwinden vom heimischen Markt. Dies wird sich auf die Wertschöpfungsketten und Arbeitsplätze im Land auswirken. Und es bedeutet Verlust von Innovationskraft. Die Studie geht von Umsatzeinbußen von mindestens 12% aus. Erforderliche Produkte und Technologien für die Transformation in der EU müssten dann in anderen Regionen der Welt entwickelt und importiert werden.
Eine solche Entwicklung würde das Potential der Chemie, zum Gelingen des Green Deals beizutragen, ungenutzt lassen. Während die Minimierung des Einsatzes besonders gefährlicher Chemikalien und ihre Substitution durch weniger gefährliche und nachhaltige Stoffe erklärtes Ziel des europäischen Chemikalienrechts ist, müssen aus VCI-Sicht bei allen neuen Regelungen die Auswirkungen vorab ermittelt und möglicher Schaden und Nutzen abgewogen werden.
Der VCI bringt daher mit dem europäischen Verband CEFIC Verbesserungsvorschläge ein, zum Beispiel zu Definitionen, Kriterien und dem Vorgehen beim Risikomanagement. Auf Bundesebene konnte ein klares Bekenntnis zum Risikoprinzip im Koalitionsvertrag erreicht werden. In Rheinland-Pfalz haben Chemieverbände und Gewerkschaften gemeinsam ein Plädoyer für ein praktikables Vorgehen bei der Umsetzung der Chemikalienstrategie in Chemikalienrecht über den Transformationsrat der Landesregierung mit folgenden Argumenten eingebracht:
- Vorhersehbarkeit und stabile Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Investitionen: bestehende REACH-Verordnung kontinuierlich weiterentwickeln
- Herausforderungen des Green Deals: solider Übergangsrahmen für die chemische Industrie, der Zeit und Ressourcen für die Entwicklung von Innovationen lässt
- etablierte Ansätze, wie die bewährte wissenschaftliche Risikobewertung im Rahmen von REACH für die Zulassung von Chemikalien beibehalten
- mögliche neue – rein europäische – Gefahrenklassen in einer novellierten CLP-Verordnung haben Potential einer Inkompatibilität mit der internationalen UN-GHS-Systematik und sind nachteilig für die exportorientierten rheinland-pfälzischen Chemieunternehmen
- Anreize für Forschung und Innovationen sowie Märkte für neue Chemikalien schaffen
- verstärkte Kontrolle der Einhaltung der REACH-, CLP- und Produktsicherheitsvorschriften für Importe in die EU: Verbraucherschutz und Sicherung fairer Wettbewerbsbedingungen, Stärkung des Vollzugs auch auf Länderebe
- nachhaltige Chemikalien: Ganzheitlicher Ansatz, der den gesamten Lebenszyklus und alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit im Blick hat (Ökologisch, Sozial und Ökonomisch)
- weitere Herausforderungen berücksichtigen: Klimaneutralität, Digitalisierung und Aufbau einer Kreislaufwirtschaft
- Bundesebene: Vertreter von Rheinland-Pfalz sollen sich für eine wirksame, aber auch für den Mittelstand umsetzbare Ausgestaltung von Novellierungen im Chemikalienrecht einsetzen
Ein Dringlichkeitscheck ist notwendig
Derzeit hält der VCI es unter den geänderten energie- und geopolitischen Rahmenbedingungen für dringend geboten, dass Berlin und Brüssel eine Dringlichkeitsanalyse der laufenden Gesetzesvorhaben vornehmen und priorisieren. Alle zeitnahen Lösungen, die Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit von Energie unterstützen und so die Wirtschaft und Arbeitsplätze stabilisieren, sollten aus Sicht des VCI absoluten Vorrang haben. Parallel muss der Ausbau erneuerbarer Energien und der nötigen Infrastruktur mit aller Kraft vorangetrieben werden. Zur Kategorie „Aufschieben“ zählt für den VCI auch die EU-Chemikalienstrategie. Wenn es doch zu einer zeitnahen Umsetzung kommt, so muss diese unbedingt mit Augenmaß und in kleinen zeitlichen Schritten erfolgen, um unseren Unternehmen Anpassung zu ermöglichen. Zudem muss die Wirkweise der Regulierung eng gemonitort werden, um Fehlentwicklungen rechtzeitig erkennen und korrigieren zu können.